Älter werden ist Pflicht;
Erwachsenwerden ist optional.“
– Chili Davis
Anlass für diesen Text ist ein NZZ-Artikel vom 29.10.2024 von Judith Blage mit dem Titel: «Psycho-Ratgeber über das «innere Kind» boomen: Das ist typisch für unsere Zeit – seicht».
In recht herablassendem Stil wird darin ein scheinbarer Trend, die Arbeit mit dem inneren Kind, kritisiert. Es wird Menschen, die sich damit ausserhalb offizieller Psychotherapie befassen, vorgeworfen, sich im infantilen Opfersein zu suhlen. Weiter heisst es dann: «Wie viel gediegener klingt es doch, eine Identität als verletzliches Opfer zu pflegen, ein bisschen achtsam zu atmen, Yoga-Übungen für die Selbstliebe zu turnen – und die Probleme sind erledigt.
Die Gelegenheit wird genutzt, wieder einmal «unzählige weitere Coachs, Psycho-Heiler, Lebensberater, Achtsamkeitstrainer und andere (Halb-)Professionelle des Seelenheils» zu verunglimpfen.
Ein interessanter Satz ist folgender: «Was die Verwender dieser Wörter dabei gar nicht merken, ist die Tatsache, dass sie so ziemlich aussagekräftig auf sich selbst verweisen.» Das sollte die Autorin meiner Meinung nach einmal selbstkritisch auf sich selbst anwenden. Ich vermute sehr stark, dass sie sich noch nicht tiefergehend mit ihrem inneren Kind auseinandergesetzt hat.
Ich bin selbst so ein Coach, wie oben erwähnt, und habe mich in meinem eigenen Prozess seit vielen Jahren immer wieder mit dem inneren Kind auseinandergesetzt. Zum Beispiel innerhalb einer Ausbildung in pränataler Psychotherapie bei Franz Renggli. Davon habe ich enorm profitiert, indem ich mir ein entsprechendes Bewusstsein erarbeitet habe. Ein praktisches Beispiel: in Konflikten mit meiner Beziehungspartnerin ertappe ich mich sehr oft, dass meine ersten automatischen Reaktionen von meinem inneren Kind kommen. Indem ich mir dessen rasch bewusst werde, kann ich diesem inneren Kind, das oft Mangel an Zuwendung, gesehen und ernst genommen werden usw. erlebt hat, liebevoll zuwenden und dann wieder eine eigene erwachsene Position einnehmen. Und so auf konstruktive Weise in die Auseinandersetzung mit einem Konflikt gehen.
Ich habe den eingangs erwähnten Artikel kommentiert: «Dass alle, die sich mit dem inneren Kind beschäftigen, sich im Opfer-Dasein suhlen ist eine intellektuelle Scheuklappen-Haltung. Die Arbeit mit dem inneren Kind ist ein erster Schritt, danach erst können erfolgreich neue Strategien entwickelt werden.»
Ich habe die mehrfache praktische Erfahrung mit KlientInnen, die mehrere Jahre Psychotherapie hatten, ohne dass sich etwas an ihren Belastungen wirklich geändert hat. Nach drei Sitzungen, manchmal sogar noch weniger, mit intensiver Auseinandersetzung mit dem inneren Kind, hat sich ein deutlich positiveres Lebensgefühl eingestellt. In solch einem intensiven Prozess wird nicht nur vom Kopf her über ein Problem geredet, sondern aktiv das innere Erleben einbezogen und die damit einhergehende Energiebasis mit konkreten Werkzeugen verändert.
Bleibt anzumerken, dass ganz klar unterschieden werden muss zwischen Menschen, die wirklich psychisch erkrankt sind und dann eben auch entsprechende anerkannte Therapie brauchen und den vielen Menschen, die versuchen, alltägliche Belastungen aktiv anzugehen.
Hast Du Dich schon einmal «erfolgreich» mit Deinem inneren Kind beschäftigt? Es lohnt sich auf jeden Fall, auch wenn das momentan vielleicht ein Hype ist. Als Erinnerung nochmals das am Beginn stehende Zitat, das mir sehr gut gefällt:
«Älter werden ist Pflicht; Erwachsenwerden ist optional.“ – Chili Davis.
“Growing older is mandatory;
Growing up is optional.”
Chili Davis
The reason for this text is an NZZ article from 29.10.2024 by Judith Blage entitled: “Psycho-guides about the ‘inner child’ are booming: This is typical of our time - shallow”.
In a rather condescending style, it criticizes an apparent trend of working with the inner child. People who deal with it outside of official psychotherapy are accused of wallowing in infantile victimhood. They go on to say: “How much more dignified it sounds to cultivate an identity as a vulnerable victim, breathe a little mindfully, do yoga exercises for self-love - and the problems are solved.
The opportunity is taken to once again denigrate “countless other coaches, psycho-healers, life coaches, mindfulness trainers and other (semi-)professionals of soul healing”.
One interesting sentence is the following: “What the users of these words don't even realize is that they are referring to themselves in a very meaningful way.” In my opinion, the author should apply this self-critically to herself. I strongly suspect that she has not yet dealt with her inner child in any depth.
I am such a coach myself, as mentioned above, and have been dealing with the inner child again and again in my own process for many years. For example, during my training in prenatal psychotherapy with Franz Renggli. I have benefited enormously from developing this awareness. A practical example: In conflicts with my partner, I often find that my first automatic reactions come from my inner child. By quickly becoming aware of this, I can lovingly turn to this inner child, who has often experienced a lack of attention, being seen and taken seriously, etc., and then take an adult position again. In this way I can deal with a conflict in a constructive way.
I commented on the article I mentioned at the beginning: "The fact that everyone who works with the inner child wallows in victimhood is an intellectual blinkered attitude. Working with the inner child is a first step, only then can new strategies be successfully developed.
I have had repeated practical experience with clients who have had several years of psychotherapy without any real change in their stress levels. After three sessions, sometimes less, of intensive confrontation with the inner child, a much more positive attitude to life has emerged. In such an intensive process, we don't just talk about a problem from the head, but actively include the inner experience and use the associated energy base with concrete tools.
It should be noted that a clear distinction must be made between people who are truly mentally ill and in need of appropriate, recognized therapy, and the many people who try to actively deal with the stresses of everyday life.
Have you ever "successfully" dealt with your inner child? It's definitely worth it, even if it's a bit of a hype at the moment. As a reminder, let me repeat the quote at the beginning that I really like:
"Aging is mandatory; growing up is optional." - Chili Davis.